Zukunftsformel für die Chemieindustrie: Warum die Abkehr von fossilen Rohstoffen Jobs und Wertschöpfung schafft
Die deutsche Chemieindustrie steht unter Druck durch hohe Gas- und Ölpreise, schwache inländische Konjunktur und internationale Konkurrenz. Eine neue Studie von Agora Industrie zeigt, wie eine strategische Neuausrichtung auf Recycling und heimische Rohstoffe die Branche zum Innovationstreiber machen kann, und dadurch Arbeitsplätze und neue Wirtschaftsleistung schafft.
Berlin, 3. November 2025. Durch die stärkere Nutzung heimischer Biomasse und mehr Recycling können deutsche Chemiestandorte 2045 bis zu 90.000 zusätzliche Arbeitsplätze und bis zu zehn Milliarden Euro neue Wertschöpfung schaffen – und sich zudem unabhängiger von Rohstoffimporten machen. Das zeigt eine neue Studie von Agora Industrie, die der Thinktank gemeinsam mit Fraunhofer IKTS und Carbon Minds erstellt hat. Darin untersucht Agora verschiedene Ressourcen- und Importpfade für eine klimaneutrale Chemieindustrie in Deutschland und deren Auswirkungen auf Investitions- und Betriebskosten, Arbeitsplätze und Wertschöpfung. Entscheidend für die Erschließung neuer Wirtschaftszweige ist es demnach, auf eine erneuerbare Kohlenstoffbasis aus Recycling von Kunststoffprodukten sowie heimischer Biomasse zu setzen. Indem Unternehmen Produktionsprozesse darüber hinaus auf strombasierte Verfahren umstellen, kann die deutsche Chemieindustrie bis 2045 ihre gesamten Emissionen entlang der Wertschöpfungskette in Höhe von 80 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Langfristig wird die Branche dadurch sogar klimapositiv: Die Umstellung von fossilen auf erneuerbare Rohstoffe ermöglicht ab 2045 rund 15 Millionen Tonnen CO2 Negativemissionen jährlich, da die Nutzung von Biomasse im Gegensatz zu fossilen Rohstoffen der Atmosphäre Kohlenstoff entzieht.
„Angesichts der zahlreichen strukturellen Herausforderungen braucht die deutsche Chemieindustrie eine neue Perspektive“, sagt Dr. Julia Metz, Direktorin von Agora Industrie. Dabei könne sich die Branche in einem schwierigen Umfeld aus schwacher Nachfrage im Inland, schrumpfenden Weltmarktanteilen gegenüber Wettbewerbern wie China und hohen fossilen Energiepreisen auf ihre Stärken besinnen. „Die deutsche Chemieindustrie ist seit jeher bekannt für ihre Innovationsstärke und Technologieführerschaft. Eine Abkehr von fossilen Rohstoffen bietet nun die einmalige Chance, diese Potenziale zu nutzen und sich zugleich zukunftsfest aufzustellen. Das erfordert Entschlossenheit auf Unternehmensseite, aber auch politische Unterstützung für diese Transformation.“ Metz betont zudem die Notwendigkeit, Investitionssicherheit zu schaffen – mit einer Kombination aus kurzfristiger Unterstützung im Übergang und klaren klimapolitischen Leitplanken: „Es geht jetzt darum, den Unternehmen wieder Vertrauen in den Wirtschaftsstandort zu geben. Dafür braucht es unmittelbare Entlastung, etwa durch einen Industriestrompreis, aber auch eine langfristige Perspektive für die Transformation – durch den Emissionshandel, Investitionsanreize für klimaneutrale Prozesse und einen starken europäischen Markt für grüne Produkte Made in Europe.”
Heimische Biomasse und Recycling schaffen Jobs und reduzieren die Abhängigkeit von Importen
Die Agora-Studie vergleicht verschiedene Pfade zu einer klimaneutralen Chemieindustrie auf Basis aktuell verfügbarer Lösungen. Die stärksten positiven Effekte ergeben sich dabei bei zwei dieser Pfade – beim Fokus auf heimische, erneuerbare Ressourcen und mehr Recycling (Szenario „Heimische Biomasse“) und beim
Szenario „Zwischenprodukt Import“, das heimische Biomasse und mehr Recycling mit Importen grüner Zwischenprodukte kombiniert. Laut der Agora-Modellierung sorgt der vollständige Ersatz von Rohölprodukten mit heimischer Biomasse (Szenario „Heimische Biomasse“) für eine Verlagerung von Produktionsschritten und Wertschöpfungsstufen ins Inland und damit für bis zu 53.000 neue Stellen: So entstehen zum Beispiel in der Weiterverarbeitung von heimischer Biomasse zu Methanol – als Ersatzprodukt für Erdöl – insbesondere im ländlichen Raum neue Beschäftigungszweige. Hinzu kommen bis zu 35.000 neue Arbeitsplätze durch mehr Recycling – also insgesamt rund 90.000 zusätzliche Jobs. Die zusätzliche Wertschöpfung beläuft sich demnach auf rund zehn Milliarden Euro. Dadurch entstehen jedoch auch bis zum Jahr 2045 Investitionsbedarfe für neue Anlagen in Höhe von etwa 50 Milliarden Euro.
Deshalb betonen die Autorinnen und Autoren der Studie, dass ein vollständiger Umstieg auf heimische Ressourcen zwar möglich ist, die Kombination mit dem Import grüner Zwischenprodukte (wie im Szenario „Zwischenprodukt Import“) – von grünem Wasserstoff, Methanol und Ethanol – die erforderlichen Investitionen für Unternehmen jedoch beträchtlich reduziert. Bei einer Rohstoffbasis, die zu etwa zwei Dritteln aus heimischen Ressourcen und etwa einem Drittel aus grünen Rohstoffimporten besteht, entstehen den Modellierungsergebnissen zufolge rund 70.000 neue Stellen. Gleichzeitig liegen die benötigten Investitionen für neue Anlagen niedriger als im heimischen Szenario – bei rund 37 Milliarden Euro. Das liegt vor allem daran, dass weniger inländische Produktion von absehbar kostenintensivem grünem Wasserstoff nötig wäre, weil dieser durch den günstigeren Import von Zwischenprodukten ersetzt wird. Dieser Mittelweg würde die jährlich erforderlichen Investitionen in der Chemieindustrie auf 1,85 Milliarden Euro – oder 12 Prozent der derzeitigen Ausgaben für Industrieanlagen – begrenzen. Die zusätzliche Wertschöpfung würde so um sieben Milliarden Euro ansteigen.
Die Chemie braucht neue Ansätze, die aus der Krise führen
Selbst ein Pfad zur klimaneutralen Chemieproduktion, der noch einen relevanten Anteil fossiler Rohstoffe beinhaltet, setzt stärkere Verarbeitung von Biomasse im Inland und einen Ausbau der Recyclingwirtschaft voraus: In einem dritten Szenario („Teilfossil“) würden fossile Rohstoffimporte von heute rund 80 Prozent auf rund ein Drittel zurückgehen, während heimische Ressourcen den restlichen Bedarf abdecken. Die erforderlichen Investitionen lägen hier mit 34 Milliarden Euro zwar am niedrigsten. Allerdings würden auch die positiven Effekte mit rund 60.000 neuen Jobs und fünf Milliarden zusätzlicher Wertschöpfung geringer ausfallen. Und anders als in den anderen beiden Szenarien ohne fossile Rohstoffe könnten keine negativen Emissionen erzielt werden.
„Unsere Studie zeigt, dass die neuen Ansätze – Ausbau der Recyclingwirtschaft und der Aufbau einer Bioökonomie – Chancen für die deutsche Chemieindustrie eröffnen. Es braucht vorwärtsgerichtete Ansätze, um Unternehmen zukunftssicher aus der Krise zu führen“, sagt Metz. „Mit neuen Rezepturen können sich Chemiestandorte unabhängiger von fossilen Importen machen, technologische Souveränität zurückgewinnen, sichere Jobs schaffen – und obendrein dem Klima nutzen.“ Dafür brauche es sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene einen geeigneten Rahmen, der die Unternehmen im globalen Wettbewerb stärkt. Dabei sei es wichtig, die aktuell noch vorhandenen Mehrkosten von durchschnittlich rund 1000 Euro pro Tonne Basischemikalien aus der klimaneutralen Produktion zu adressieren – auch wenn der Preis des daraus hergestellten Endprodukts nur um kleine Prozentbeträge steige. Es brauche einen Mix aus Maßnahmen, so Metz: „Ein verlässliches CO2-Preissignal über den europäischen Emissionshandel im Zusammenspiel mit einem wirkungsvollen CO2-Grenzausgleich bietet Schutz für den Aufbau klimaneutraler Produktionsstandorte und erlaubt das Einpreisen von indirekten Emissionen, etwa bei der Rohstoffförderung.“
Die Studie Innovationen für morgen: Chancen für eine klimaneutrale Chemieindustrie ist in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen Carbon Minds und dem Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS) entstanden. Agora Industrie stellt die 71-seitige Publikation am Montag, den 3. November 2025 auf einer Veranstaltung in der Data Space Eventlocation in Berlin vor. Die Studienergebnisse und politische Handlungsempfehlungen für eine zukunftsfeste Chemieindustrie diskutieren anschließen Matthias Belitz (VCI), Nicklas Kappe MdB (Bundestagsfraktion CDU/CSU), Julius von der Ohe (C1 Green Chemicals AG), Viviane Raddatz (WWF) und Alexander Roeske (IGBCE). Eine Teilnahme ist auch online möglich. Alle Information zur Event-Anmeldung und der kostenlose Download der Studie ist auf www.agora-industrie.de zu finden.
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